Gedeckter Tisch im Müllerhaus

Gedeckter Tisch im Müllerhaus

Jahreswechsel, die Zeit „zwischen den Jahren“, zwischen Weihnachten und Silvester. Eine Zeit, die wir in den letzten Jahren „traditionell“ in wärmeren Gefilden verbracht haben, mal in Spanien, mal auf den Kanaren (ja auch eigentlich Spanien), mal auf Grenada in der Karibik und zuletzt auf Jamaica. Und dieses Jahr? Dieses Jahresende ist anders, fühlt sich anders an, endet etwas unerwartet. Aber bietet auch neue Möglichkeiten, öffnet neue Türen wo sich andere (kurzzeitig) verschlossen haben. Und so fahre ich am Steuer eines Kleinwagens in dunkler Nacht übers hier gar nicht mal soooo platte Land. Folge vorsichtshalber den Anweisungen meiner Navigationssoftware. Nicht, dass ich hier zwischen Birkenbäumen und viel Ackerfläche „strande“. In der Nacht sind schliesslich nicht nur die Katzen grau, auch die braunen Hinweisschilder für Sehenswürdigkeiten sind nicht wirklich optimal erkennbar. Ein paarmal links abbiegen, dann habe ich mein Ziel erreicht:

ein altes, liebevoll restauriertes und zur Begegnungsstätte umfunktioniertes Müllerhaus, am Rande eines kleinen Dorfes in der Nähe von Verden gelegen, einladend und stimmungsvoll gedeckte Tische, in Kerzenlicht getaucht. Zwei Kräuterfrauen, die mit selbst gekochtem Punsch, Kräutertee und kleinen Leckereien zwischen Küche und Seminarraum hin und her eilen.

Auf dem Tisch stehen Räucherstövchen und duften unsichtbar vor sich hin. Auf anderen Tischen warten getrocknete Kräuter, Blüten, Tannennadeln und Harze in allen Variationen auf die Teilnehmerinnen der „Kräuterwerkstatt Rau(ch)nächte“ warten.

Rau(ch)nächte??? Eine seit langer Zeit und über Generationen hinweg gepflegte Tradition des Räucherns wird uns heute Abend näher gebracht. Locker und unterhaltsam führen uns die beiden Kräuterfrauen in die Geheimnisse des Räucherns ein. Aber wer hier an Fisch und Fleischräucherei denkt, ist weit ab vom Thema. Um Kräuter geht es, um Harze, Tannennadeln, Blüten. Getrocknet, am Stück und klein gemahlen wartet die duftende Vielfalt darauf, zu Kräutermischugen und Duftkegeln bzw. -kugeln verarbeitet zu werden. Aber vorher wird ca. 20 interessierten Frauen von der Bedeutung der Rauhnächte und den damit verbundenen Traditionen  erzählt:

Diese Nächte haben ihren Beginn am 21. Dezember, dem Tag der Wintersonnenwende und damit mit der längsten Nacht des Jahres. Altes Wissen, früher von der Oma und auch noch der Mutter in so mysteriösen Dingen wie „zwischen Weihnachten und Neujahr darf keine Wäsche auf der Leine hängen“ oder im Gebrauch der industriell her gestellten und allseits beliebten Räucherkerzen aktiv gelebt und von uns „Jungen“ zugegebenermassen doch etwas belächelt und als Mumpitz abgetan.

Man wollte doch modern sein.

Mittlerweile steht Frau diesen alten Mythen und Ritualen durchaus wieder aufgeschlossener gegenüber. Und stellt mit leichtem Erstaunen fest, das sie doch vieles von diesem Wissen tief in ihrem Inneren bewahrt hat.

Heute Abend wird es also geweckt, dieses Wissen, an die Oberfläche geholt, frei gelassen. Frei wie der Rauch, der aus den Räuchertöpfen quillt. Hervorgerufen von wundervollen Duftmischungen, die auf einem Stück Räucherkohle langsam das Wesen ihrer Bestandteile freigeben. Mit einer Feder wird der Rauch veredelt und bei einigen Teilnehmerinnen regt sich Besorgnis, ob vielleicht die Rauchmelder gleich aktiviert werden.

Werden sie nicht. Entweder, weil sich der Rauch durch das obligatorische intensive Lüften schnell wieder verzieht oder weil er einfach doch nicht stark genug war. Was bleibt, ist ein angenehmer Duft, der sich im ganzen Raum verbreitet und auf unser sensibles Sinnesorgan, die Nase, wirkt.

Dann dürfen wir aktiv werden, selbst mischen, nach Rezepten und Anleitungen der beiden Kräuterfrauen. Wollen wir entspannen oder hellwach sein? Sollen Räume gereinigt, Insekten und Krankheitskeime vertrieben werden? So vielfältig wie die Grundstoffe der Rauchmischungen sind auch ihre Anwendungsmöglichkeiten. Flüchtig im Genuss, schnell in der Wirkung und dauerhaft im Gedächtnis - das ist die Welt der Düfte. Und gerade jetzt im Winter ist im aufsteigenden Rauch nicht nur Duft enthalten. Im Rauch steigt ganz vieles auf, verweht, entschwindet. Dem Rauch kann man Gedanken, Gefühle mitgeben. Er ist flüchtig und doch bleibend, im Raum und in unserem Kopf. Denn unser Duftgedächtnis ist langlebig, vergisst nichts.

Unvergesslich wird mir auch dieser Abend bleiben. Der so herrlich entspannend und doch informativ und lebendig war.

Ein Abend weitab von unserem normalen Bootsleben. Und doch adaptierbar, inspirierend für mein anderes, mein Bordleben. Denn auch auf einem Boot besteht die Möglichkeit, das Räuchern sinnvoll anzuwenden. Und sicherlich ist es auch spannend, in den verschiedenen Ländern dieser Welt lokale Duftpflanzen und Kräuter dafür zu sammeln und sich so ein Stück des Landes zu bewahren und mitzunehmen.

Kräutersammlung

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