Tages-Archiv 19. Juni 2018

Ortswechsel mit Überraschungen

Die Landschaft verändert fast unmerklich ihr Aussehen, die Strasse ist irgendwie gerader, wirkt länger, wippt kleinere Hügel auf und ab und ist doch lange sichtbar. Wir sind immer noch in Ontario. Haben Kingston hinter uns gelassen, fahren am Nordufer des Lake Ontario entlang. Vom See ist nichts mehr zu sehen, der liegt irgendwo links unter uns.

Eine graue Wolkenwand schiebt sich auf uns zu, der angekündigte Regen lässt nicht länger auf sich warten. Beste Voraussetzungen, um die Nacht - wo auch immer - im Auto zu verbringen ;/). Zelt wird heute definitiv keines mehr aufgebaut.

Der Regen setzt ein, wir ignorieren die Fahrhinweise unserer Navigationsdame geflissentlich, rollen über schmale Landstrassen. Und landen plötzlich und unerwartet im Cannabis-Paradies. Leuchtreklamen mit dem unverwechselbaren grünen Blatt preisen die Ware an wie andern Orts so manche D

ame ihre Gewerbe anpreist. Wo die Eine mit rot heimleuchtet, ist es hier eben grün. Phantasievolle Namen wie “Oasis”, Smoke on the water”, “Pot Shoppe” oder “Farmers Market” machen neugierig. Die dazugehörigen Buden allerdings schrecken irgendwie auch wieder ab. Fast-Pot im Imbissbudenstil. Nix für uns. Schnell ein Foto, leicht verwaschen. Was am Regen liegt und nicht am Konsum der grünen Pflanze :-). Ehrenwort.

Jones Falls

Ein klein bisschen Kanada-Natur-Feeling
Wir kommen um die Kurve, langsam weil der Weg aus einer Schotterpiste besteht. Braun steht es da, rotbraun. Sanfte, wissende Augen im schmalen, edlen Kopf.  Die Lauscher aufmerksam nach vorne gestellt, den Kopf uns zu gewandt verharrt das Reh für einen Moment am Wegrand, verharrt. Wir schauen uns an, unverwandt, unfähig, uns zu rühren, dann springt es elegant die Böschung runter Richtung Wasser.
Ein Stück weiter läuft ein brauner Kugelblitz mit einem etwas platt wirkenden, kurzen Schwanz eilig über die Strasse. Biber oder nicht-Biber?
Wir sind nicht in einem der unzähligen und unendlich weiten Naturparks Kanadas. Aber wir bekommen eine klein wenig eine Ahnung davon, wie es dort sein könnte, in der weiten, weiten Wildnis. Unser Ziel ist Jones Falls, eine weitere Schleuse im Reigen der Rideau-Canal-Schleusen zwischen Kingston, Ontario und Ottawa, Ontario.
Den Tipp haben wir von einem Paar in Merrickville bekommen. Wenn wir zurück nach Kingston führen, sollten wir unbedingt einen Halt in Jones Falls einplanen. Noch eine Schleuse, sind die nicht alle zwar irgendwie schön aber auch irgendwie gleich? Ja, sind sie. Und doch empfängt uns auch hier wieder ein ganz besonderer Zauber, ist Jones Falls einzigartig. Und wir sind froh, den Abstecher hierher gemacht zu haben.
Zwischen urzeitlichen Felsblöcken erheben sich mächtige Schleusentore. Bis zu 15 Fuss sind die Schleusenkammern tief und das Gefälle ist schon beeindruckend. Rund um die Schleusenanlage, die wieder aus 4 Kammern besteht, 3 davon als sog. “Flights”. Ein Höhenunterschied von insgesamt 17,8 Metern wird dabei überbrückt. Rund um die Schleusenkammern führt ein Fussweg, der teils mit Treppenstufen die Höhe überwindet. Dabei wandert man von der Holzbrücke, die zum Hotel Kenney hinüberführt über die Besucherinformation zum “Sweeney House”, das früher dem Schleusenwärter als Wohnhaus diente und noch original ausgestattet ist. Der Weg führt eigentlich weiter zum auch heute noch beeindruckenden Damm. Den schenken wir uns aber, die Wanderung ist so schon schweisstreibend genug und die junge Dame, die im historischen Gewand im Sweeney House auf neugierige Besucher wartet, beneidet uns nicht darum, in der Sonne herum zu wandern. Mit der gestärkten weissen Haube auf dem Kopf und dem fest gewirkten Stoff ihres langen Kleides wäre das sicherlich auch kein wirkliches Vergnügen. Leise pustend hebt sie fächelnd den Rock immer wieder etwas an.
Vor der Schleuse hat eine Art Ausflugsboot festgemacht. Die ganze Truppe steigt vergnügt aus und bezieht um einen der unvermeidlichen Picknicktische Stellung. Wir tasten uns über das Schleusentor auf die andere Seite zur alten Schmiede. Die ist immer noch in Betrieb und schmiedet kleine Werkstücke wie Schlüsselanhänger, Wandhaken, Serviettenhalter oder Zahlen. Heute allerdings wird nicht geschmiedet. To hot. Verstehen wir. Wer will sich bei den sommerlichen Temperaturen schon selbst einheizen? Über einen urwüchsigen und kaum erkennbaren Pfad geht es über Stock, Stein und eine Holzbrücke durch den Wald zurück zum Parkplatz. Mit unseren Flip-Flops und Bootsschuhen sind wir wieder perfekt ausgerüstet für dieses steinige, manchmal etwas glitschige Wegstück. Wie die Gemsen klettern wir über Stock und Stein und kommen doch leicht ins Schnaufen. Kondition geht irgendwie anders. Eine doppelgeflügelte Libelle schwirrt vor uns her, Farnkraut wächst auf Felsen und ganz dicht am Wasser. Da machen wir doch heute ganz unvermutet noch eine Naturwanderung, wer hätte das gedacht.
Nach Kingston Mills, Merrickville hat uns nun auch Jones Falls sehr beeindruckt.  Wer allerdings im zugegebenermassen idyllisch aber auch sehr einsam gelegenen Kenney-Hotel die Zimmer bevölkern und für Leben sorgen soll? Und was passiert hier im Winter? Schotten dicht und ab in den Süden? Oder werden dann die Schlittenhundgespanne und die Langlauf-Skier ausgepackt? Ontario im Winter - das wäre sicher auch eine spannende Erfahrung.