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„Waaaas, ihr wollt nach Boccagrande laufen, von hier aus? Nicht euer Ernst, ich kann euch doch mit dem Dinghi rüber fahren, dann könnt ihr den Bus zurück nehmen“ – Jonas hängt über der Reling der Little Wing und erklärt uns offenbar gerade für völlig verrückt. Wir haben ihn nach einer Adresse in Boccagrande gefragt, wo man Solarpaneele bekommen kann.

Nein, an gefassten Plänen halten wir (manchmal) doch fest und so tappern wir kurze Zeit später mit einer für uns noch etwas vagen Lagebeschreibung im Ohr erst Richtung Getsemani. Auf dem kürzesten Weg geht es durch dieses schöne alte Arbeiterviertel. Auch die Muelle Pegasus wird mehr oder weniger mit Missachtung gestraft. Dann betreten wir mit dem Muelle Touristico Neuland. Die Kirchtürme der Altstadt lugen vorwitzig über die Stadtmauer und bieten eine neue Perspektive. Auch hier sind die Strohhutverkäufer auf der Suche nach Kundschaft. Die Ausflugsschiffe bereiten ihre Abendtouren vor, Planen werden gespannt, 3 Sänger üben die Choreographie ihres Auftrittes ein. Am Abend wird der Nachbau eines historischen Frachtseglers bunt beleuchtet im Schritttempo durch die Bucht tuckern, die Fracht besteht dann aus zahlenden Gästen, die Cartagena bei Nacht vom Wasser aus erleben wollen, Karaoke inclusive.

Vorbei an den zahlreichen Kassenhäuschen der diversen Tourveranstalter und den Anlegestellen der Taxiboote kommen wir zum Marinehospital und dann zum Marinestützpunkt. Vom Wasser sieht man hier eher nix, die weitläufige Anlage nimmt den Blick, da haben wir von unserem Ankerplatz aus definitiv die bessere Perspektive. Dann tauchen wir ein in die Hochhauslandschaft Boccagrandes. Hotels, Appartmenthäuser, Supermärkte, kleinere Läden, Shoppingmalls und eine extrem stark befahrene Strasse. Die dann beginnende Uferpromenade steckt noch in den Kinderschuhen, wird gerade erst angelegt oder überarbeitet. Wie auch immer, sie ist extrem kahl und gibt freien Blick über die Bucht. Wo liegen wir? Leichte Orientierungsschwierigkeiten werden schnell überwunden, dann haben wir auch unser Böötchen im Blick.

Wo müssen wir hin? Calle 6 – die finden wir relativ gut, die Strassenschilder sind eindeutig und durchnummiert, wir zählen abwärts. In einem kleineren Hochhaus im 4. Oder 5. Stock soll die gesuchte Firma zu finden sein. Es handelt sich um ein Ingenieurbüro, kein Ladengeschäft mit Schaufenster oder grossem Hinweisschild. Dieses Wissen nützt uns irgendwie aber auch nix, denn in Calle 6 steht kein passendes Gebäude. Hier ducken sich noch viele niedrige Häuser zwischen einen grossen Carulla und einen Olmpica Supermarkt. Beide 24H geöffnet. Mutig fragen wir uns durch – niemand kennt die betreffende Firma. In einem Farbenladen haben wir die ungeteilte Aufmerksamkeit der anwesenden Kundschaft und sämtlicher Verkäufer, alle rätseln und überlegen, ob sie vielleicht wissen, wo die Firma ihren Sitz haben könnte. Der Senor hinter der Theke fackelt nicht lange und zieht das www zu Rate, wird auch binnen weniger Sekunden fündig und weist ebenso strahlend wie entschlossen und zielstrebig auf das gegenüberliegende Gebäude. Beim Wachmann sollen wir fragen, in welchem Büro genau die Firma ist. Gesagt-getan. Die Wachfrau nennt uns die Stockwerk- und Büronummer und öffnet einen Durchgang für uns. Mit dem Aufzug geht es in den 4. Stock und kurz darauf stehen wir ganz offensichtlich in den Räumen einer Solaranlagen-Firma. Fotos von grossen Solarfeldern an den Wänden, ein Musterboard mit Invertern und Reglern. Mehrere nette junge Damen und ein Herr bemühen sich um uns, aktivieren Übersetzungsprogramme, telefonieren einem ausserhäusigen Verkäufer hinterher und zeigen uns ein Musterpanel. Das kann angeblich auch mit 24Volt arbeiten, der Käptn staunt noch etwas ungläubig und beschliesst sicherheitshalber, eine Angebotsanfrage nochmal per Email zu schicken.

Unsere Motivation, den Rest Boccagrandes ebenfalls noch zu erkunden ist gen Null gesunken. So viele Hochhäuser, das halten wir dann doch nur begrenzt aus. Auf der Atlantik- und somit Strandseite geht es zurück. Den schmalen Schattenstreifen unter den Bäumen und Sträuchern haben zahlreiche Verkaufsbuden und Strandbars okkupiert, für die Badegäste stehen aber reichlich Sonnenpavillons und Plastikstühle im gräulich-braunen Sandstrand. Der wirkt irgendwie künstlich-aufgeschoben und gibt sich viel Mühe, sich auch noch über den Gehweg auszubreiten. Gebaut wird hier noch ohne Ende, Nobel-Hotels, Appartmenthäuser – bunte Plakate mühen sich, potentielle Käufer zu überzeugen. Kaum vorstellbar, dass das alles mal verkauft bzw. bewohnt sein soll. Zwischen Bebauung und Strand donnern zweispurig unzählige Nobelkarossen, die unvermeidlichen Taxis und die quitschenden Busse vorüber, alle haben es furchtbar eilig. Als Fussgänger muss man hier flott sein oder einen guten Schutzengel haben. Vereinzelt ducken sich normale zweigeschossige Wohnhäuser zwischen die Giganten. Eines ist zum Schutz vor der benachbarten Grossbaustelle komplett mit Wellblech überdacht, ein Schild hängt dran „zu vermieten“. Wer bitte, will hier einziehen….. vielleicht der Baustellenleiter?

Auch wenn es interessant war, einen neuen Stadtteil kennengelernt und die Perspektive einmal vertauscht zu haben – wir sind froh, als wir wieder in die schmalen Gassen Getsemanis einbiegen, mit ihren vielen kleinen Handwerksläden wie Schneider, Schuster, Druckerei; den Bars, Restaurants, Hostals, den mobilen Verkaufsständen, dem quierligen Leben zwischen den vergleichsweise kleinen und vor allem niedrigen Häusern die sich dicht aneinander kuscheln. Beim Schuster holen wir Werners Sandalen ab. Schon irgendwie erstaunlich, dass der Meister in dem Wirrwarr seiner Werkstatt das richtige Paar Schuhe findet. Über Auftragsmangel kann der Senor jedenfalls nicht klagen. Der Käptn strahlt und tauscht umgehend die blasenverursachenden Croqs gegen die frisch reparierten Sandalen aus. Schnell noch ein Erinnerungsfoto und dann zur Feier des Tages ins Cafe de la Trinidad am gleichnamigen Plaza.

Jetzt am Spätnachmittag ist das Café fast leer und wir finden sogar einen Aussen-Platz auf den ungemütlich-kleinen Metallsesselchen, die sich neben einen ebenso ungemütlich wirkenden runden Glastisch quetschen. Das Innere des Cafés wirkt auch nicht besonders einladend. Was essen? Hier kostet ein Null-Acht-15 Salat schon so viel wie im Espirituo Sancto das komplette (und wirklich reichhaltige Menü) – ich verzichte. Dazu gesellt sich eine absolut unfreundliche aber dafür irgendwie hektische Bedienung, die unserer Tischnachbarin den Teller schon wegziehen will, obwohl diese noch gar nicht mit essen fertig ist. Dreist. Warum genau wollten wir nochmal unbedingt hierher, hatte das irgendwer empfohlen-gelobt oder sich sonstwie positiv darüber geäussert???? Na, haben wir das also auch mal gehabt, unsere bisherigen gastronomischen Erfahrungen waren ja eigentlich durchweg positiv, da kann uns ein solches Erlebnis nicht wirklich beeindrucken. Wir geben jedenfalls der jungen Dame aus England am Nachbartisch noch schnell ein paar Restauranttipps die sie auch freudig annimmt. Geschmeckt hat es ihr wohl auch nicht so recht, der Hunger treibts halt rein.

Allein ist das Mädel unterwegs, war schon in anderen südamerikanischen Ländern, dann in Bogota und Medellin. Jetzt ist Cartagena dran. Gestern ist sie angekommen, spricht kein Spanisch und hat aufmerksam unseren Kauderwelsch-Unterhaltungsversuch mit Santiago verfolgt. Der jongliert mit Macheten, ist ein Strassenartist und in ständiger Begleitung seines struppigen Hundes. Wir kennen ihn vom Club Nautico und mögen den barfüssigen Kolumbianer mit seinem Lockenkopf und den Zahnbrackets im Dauergrinsen irgendwie. Er habe das Boot auf dem er lebt geschenkt bekommen, von einer Senora, die jetzt auf den Azoren sei. Aha, grosszügige Senoras gibt es. Oder ist der Kahn so marode, dass sie froh war, ihn los zu sein. Unter holländischer Flagge ist das Boot registriert und alle Bedienungsanleitungen seien entweder auf niederländisch, deutsch oder englisch. Das stellt Santiago wiederum vor ein Problem, da er keine dieser Sprachen wirklich beherrscht. Was aber wahrscheinlich nicht wirklich ein Problem darstellt für diesen Lebenskünstler.